Verantwortlich: Monika Götte
Bereitgestellt: 22.02.2023
2014 habe ich aus persönlicher Betroffenheit einen Bericht über die sog. "Personenunfälle" geschrieben, auch bald zehn Jahre später wird dieser Bericht immer noch gefunden, obwohl er längst im Archiv verschwunden ist. Darum schalte ich ihn in unregelmässigen Abständen wieder auf die Website.
Monika Götte,
Wichtig!
Sie sind besorgt um jemanden?
» Das müssen Sie wissen
Sie haben Suizidgedanken?
Nutzen Sie die verschiedenen Hilfsangebote: » Tel. 143 (dargebotene Hand) oder die » E-Mail Seelsorge
Unterstützung erhalten Sie auch in unserer » Kirchgemeinde.
Weiterführende Links und Hilfsangebote finden Sie im Anschluss an den Bericht.
Es war irgendwann im Frühjahr 2014: Ich sass in der S-Bahn von Stadelhofen nach Stäfa und las, als der Zug abrupt abbremste und mitten auf der Strecke unter einigem Holpern zum Stehen kam. Nach einigen Minuten bestätigte die Durchsage, was manch eine/r schon dachte: "Personenunfall".
Im Schnitt ereignen sich 115 Suizide auf dem Schweizer Schienennetz (Quelle: SBB, Erfassungszeitraum: 2003-2017). Eine Tragödie für Angehörige und Freunde, aber auch für Zug- und Lokführer:innen sowie Passagiere.
Nach der Durchsage geschah in meinem Zugwaggon etwas, worauf ich nicht vorbereitet war: Einige Passagiere fingen an, lauthals zu schimpfen und zu wettern. Sie ärgerten sich über die anstehenden Verspätungen.
Aus Sicherheitsgründen und Gründen der Pietät dürfen Passagiere den Zug nicht verlassen, bevor der oder die Verstorbene geborgen ist und die Unfallstelle gesichert, mit Sichtschutz versehen und von den Behörden freigegeben wird. Das dauert.
In dieser Zeit muss auch der Lokführer im Zug verharren und sich noch an Ort und Stelle von der Polizei vernehmen lassen.
Leider konnte ich den wütenden Menschen in meinem Zugwagen nichts entgegnen. So geht es einem oft in einem Moment der Überforderung - man kann nichts sagen und ärgert sich nachher darüber. Ich ärgerte mich, dass ich nicht den Mut hatte, meine Mitpassagiere darauf hinzuweisen, dass zwei Stunden Verspätung nichts sind im Vergleich zu der Tragödie, die sich hier gerade abgespielt hat.
Stunden später, zu Hause angekommen, und bei genauerem Nachdenken, ist mir klar geworden, dass Menschen mit einer sie überfordernden Situation unterschiedlich umgehen. Aus der Überforderung resultiert nicht nur so etwas wie meine Sprachlosigkeit, sondern auch Verzweiflung, Angst oder eben Wut.
"Wenn schon Suizid, dann bitte so, dass nicht noch andere dabei in Mitleidenschaft gezogen werden." Solche Sätze habe ich schon oft gehört und ich kann sie verstehen.
Doch ich weiss auch, dass solche Überlegungen oftmals gar keinen Platz mehr haben: Wenn das Leben, oft durch Depressionen, so unerträglich geworden ist und der Tod die einzige Lösung zu sein scheint. Die meisten wollen nicht sterben. Sie wollen leben - aber nicht so. Gerade das sollte uns eher traurig als wütend stimmen.
Ein Suizid betrifft immer auch andere Menschen – solche, die mit der Person verwandt waren, Familien und Freunde. Und eben auch Menschen, die zufällig dazukamen oder an jenem Tag den Zug fahren. Für viele stellt ein solches Ereignis eine grosse Belastung dar, die lange nachwirkt. Ein Lokführer erzählte mir, dass man sieht, was passieren wird, aber keine Chance hat, es zu verhindern. Was sie sehen, hören und erfahren geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Einzelne können ihren Beruf nicht mehr ausüben.
Immerhin ist in allen Belangen das allgemeine Bewusstsein und die Sensibilität für das Thema gestiegen, sodass auch betreffende Lokführer:innen heute gut betreut, begleitet und präventiv geschult und geschützt werden.
Lange Zeit wurde Menschen, die durch Suizid verstorben sind, eine kirchliche Bestattung verweigert.
Oft wurden oder werden die Hinterbliebenen gemieden; weil ein Suizid nach wie vor etwas ist, was Menschen verstört. Viele wissen nicht, wie sie den Hinterbliebenen begegnen sollen.
Wie können wir, als Individuen und als Gemeinschaft reagieren?
Von Jesus wird erzählt, dass es ihm leidtat, leidende Menschen zu sehen. "Es jammerte ihn", heisst es in älteren Übersetzungen passend. Dieses "Jammern" geht noch viel weiter, eigentlich heisst das wörtlich: Es ging ihm an die Eingeweide. Für Hebräisch sprechende Menschen waren vor allem die Nieren der Sitz der Empfindungen (während das Herz der Sitz des Verstandes war). Nicht zufällig sagen wir heute noch: Es geht mir an die Nieren.
Jesus ging es an die Nieren, wenn Menschen litten. Es hat ihn im Innersten bewegt. Es ist diese innerliche Bewegtheit von etwas, das uns auf andere zugehen lässt. Wenn wir etwa ein Kind sehen, das ganz allein irgendwo steht und weint. Das geht uns nahe, wir kümmern uns darum. Jesus hatte offene Augen für die Menschen, ihre Situation und ihr Leid. Unabhängig davon, ob er diese Menschen kannte, oder nicht.
In dieser Hinsicht kann Jesus uns ein Vorbild sein, an einer Welt zu bauen, wo Menschen nicht alleine gelassen werden. Wo man auf andere zugeht und sie sich anspricht, wenn man das Gefühl hat, es gehe jemandem nicht gut. Wo man andere anspricht und fragt: Wie geht es Dir wirklich?
Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo die Liebe Gottes regiert und wir Menschen einander ohne Furcht ansprechen und begleiten können. Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo wir ein Auge auf unsere Mitmenschen haben und in der den Menschen das Schicksal der anderen nicht egal ist. Wo wir mit den Augen Jesu durch die Welt gehen, der das Leid um sich herum gesehen hat. Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo die Menschen nicht nur sich selbst und ihre Liebsten sehen, sondern eine offene Tür und ein offenes Herz für viele haben.
Wo wir für- und miteinander beten, einander unterstützen und einen Blick für das haben, was im Moment grad Not tut. Wo jede/r uns zum Nächsten werden kann.
Hilfsangebote
» Seelsorge in der Kirchgemeinde Stäfa-Hombrechtikon
» E-Mail Seelsorge (anonym): seelsorge.net
» Beratungsangebot für Jugendliche bei Pro Juventute
» Tel. 143 (dargebotene Hand)
Suizidprävention
» Suizidprävention des Kantons Zürich
Für Trauernde
» Verein Refugium: Für Hinterbliebene nach einem Suizid
» Nebelmeer: Perspektiven nach dem Tod eines Elternteils
» Verein Regenbogen: Selbsthilfegruppen für vom Suizid ihres Kindes betroffene Eltern
Weiterführendes
» SRF3 INPUT (vom Februar 2019) zum Thema Suizid
» Buchtipp: Totsächlich. Trauern und begleiten nach einem Suizid. Von Sabrina Müller
» Interview mit Sabrina Müller: Suizid darf kein Tabuthema bleiben
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Es war irgendwann im Frühjahr 2014: Ich sass in der S-Bahn von Stadelhofen nach Stäfa und las, als der Zug abrupt abbremste und mitten auf der Strecke unter einigem Holpern zum Stehen kam. Nach einigen Minuten bestätigte die Durchsage, was manch eine/r schon dachte: "Personenunfall".
Im Schnitt ereignen sich 115 Suizide auf dem Schweizer Schienennetz (Quelle: SBB, Erfassungszeitraum: 2003-2017). Eine Tragödie für Angehörige und Freunde, aber auch für Zug- und Lokführer:innen sowie Passagiere.
Nach der Durchsage geschah in meinem Zugwaggon etwas, worauf ich nicht vorbereitet war: Einige Passagiere fingen an, lauthals zu schimpfen und zu wettern. Sie ärgerten sich über die anstehenden Verspätungen.
Aus Sicherheitsgründen und Gründen der Pietät dürfen Passagiere den Zug nicht verlassen, bevor der oder die Verstorbene geborgen ist und die Unfallstelle gesichert, mit Sichtschutz versehen und von den Behörden freigegeben wird. Das dauert.
In dieser Zeit muss auch der Lokführer im Zug verharren und sich noch an Ort und Stelle von der Polizei vernehmen lassen.
Leider konnte ich den wütenden Menschen in meinem Zugwagen nichts entgegnen. So geht es einem oft in einem Moment der Überforderung - man kann nichts sagen und ärgert sich nachher darüber. Ich ärgerte mich, dass ich nicht den Mut hatte, meine Mitpassagiere darauf hinzuweisen, dass zwei Stunden Verspätung nichts sind im Vergleich zu der Tragödie, die sich hier gerade abgespielt hat.
Stunden später, zu Hause angekommen, und bei genauerem Nachdenken, ist mir klar geworden, dass Menschen mit einer sie überfordernden Situation unterschiedlich umgehen. Aus der Überforderung resultiert nicht nur so etwas wie meine Sprachlosigkeit, sondern auch Verzweiflung, Angst oder eben Wut.
"Wenn schon Suizid, dann bitte so, dass nicht noch andere dabei in Mitleidenschaft gezogen werden." Solche Sätze habe ich schon oft gehört und ich kann sie verstehen.
Doch ich weiss auch, dass solche Überlegungen oftmals gar keinen Platz mehr haben: Wenn das Leben, oft durch Depressionen, so unerträglich geworden ist und der Tod die einzige Lösung zu sein scheint. Die meisten wollen nicht sterben. Sie wollen leben - aber nicht so. Gerade das sollte uns eher traurig als wütend stimmen.
Ein Suizid betrifft immer auch andere Menschen – solche, die mit der Person verwandt waren, Familien und Freunde. Und eben auch Menschen, die zufällig dazukamen oder an jenem Tag den Zug fahren. Für viele stellt ein solches Ereignis eine grosse Belastung dar, die lange nachwirkt. Ein Lokführer erzählte mir, dass man sieht, was passieren wird, aber keine Chance hat, es zu verhindern. Was sie sehen, hören und erfahren geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Einzelne können ihren Beruf nicht mehr ausüben.
Immerhin ist in allen Belangen das allgemeine Bewusstsein und die Sensibilität für das Thema gestiegen, sodass auch betreffende Lokführer:innen heute gut betreut, begleitet und präventiv geschult und geschützt werden.
Lange Zeit wurde Menschen, die durch Suizid verstorben sind, eine kirchliche Bestattung verweigert.
Oft wurden oder werden die Hinterbliebenen gemieden; weil ein Suizid nach wie vor etwas ist, was Menschen verstört. Viele wissen nicht, wie sie den Hinterbliebenen begegnen sollen.
Wie können wir, als Individuen und als Gemeinschaft reagieren?
Von Jesus wird erzählt, dass es ihm leidtat, leidende Menschen zu sehen. "Es jammerte ihn", heisst es in älteren Übersetzungen passend. Dieses "Jammern" geht noch viel weiter, eigentlich heisst das wörtlich: Es ging ihm an die Eingeweide. Für Hebräisch sprechende Menschen waren vor allem die Nieren der Sitz der Empfindungen (während das Herz der Sitz des Verstandes war). Nicht zufällig sagen wir heute noch: Es geht mir an die Nieren.
Jesus ging es an die Nieren, wenn Menschen litten. Es hat ihn im Innersten bewegt. Es ist diese innerliche Bewegtheit von etwas, das uns auf andere zugehen lässt. Wenn wir etwa ein Kind sehen, das ganz allein irgendwo steht und weint. Das geht uns nahe, wir kümmern uns darum. Jesus hatte offene Augen für die Menschen, ihre Situation und ihr Leid. Unabhängig davon, ob er diese Menschen kannte, oder nicht.
In dieser Hinsicht kann Jesus uns ein Vorbild sein, an einer Welt zu bauen, wo Menschen nicht alleine gelassen werden. Wo man auf andere zugeht und sie sich anspricht, wenn man das Gefühl hat, es gehe jemandem nicht gut. Wo man andere anspricht und fragt: Wie geht es Dir wirklich?
Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo die Liebe Gottes regiert und wir Menschen einander ohne Furcht ansprechen und begleiten können. Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo wir ein Auge auf unsere Mitmenschen haben und in der den Menschen das Schicksal der anderen nicht egal ist. Wo wir mit den Augen Jesu durch die Welt gehen, der das Leid um sich herum gesehen hat. Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo die Menschen nicht nur sich selbst und ihre Liebsten sehen, sondern eine offene Tür und ein offenes Herz für viele haben.
Wo wir für- und miteinander beten, einander unterstützen und einen Blick für das haben, was im Moment grad Not tut. Wo jede/r uns zum Nächsten werden kann.
Hilfsangebote
» Seelsorge in der Kirchgemeinde Stäfa-Hombrechtikon
» E-Mail Seelsorge (anonym): seelsorge.net
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Suizidprävention
» Suizidprävention des Kantons Zürich
Für Trauernde
» Verein Refugium: Für Hinterbliebene nach einem Suizid
» Nebelmeer: Perspektiven nach dem Tod eines Elternteils
» Verein Regenbogen: Selbsthilfegruppen für vom Suizid ihres Kindes betroffene Eltern
Weiterführendes
» SRF3 INPUT (vom Februar 2019) zum Thema Suizid
» Buchtipp: Totsächlich. Trauern und begleiten nach einem Suizid. Von Sabrina Müller
» Interview mit Sabrina Müller: Suizid darf kein Tabuthema bleiben