"Personenunfall" - Traurige Ereignisse auf dem Schienennetz

Erlöser (Taizé) (Foto: Haru Vetsch)
2014 habe ich aus persönlicher Betroffenheit einen Bericht über die sog. "Personenunfälle" geschrieben, auch bald zehn Jahre später wird dieser Bericht immer noch gefunden, obwohl er längst im Archiv verschwunden ist. Darum schalte ich ihn in unregelmässigen Abständen wieder auf die Website.
Monika Götte,
Wichtig!
Sie sind besorgt um jemanden?

» Das müssen Sie wissen
Sie haben Suizidgedanken?
Nutzen Sie die verschiedenen Hilfsangebote: » Tel. 143 (dargebotene Hand) oder die » E-Mail Seelsorge

Unterstützung erhalten Sie auch in unserer » Kirchgemeinde.
Weiterführende Links und Hilfsangebote finden Sie im Anschluss an den Bericht.


Es war irgendwann im Frühjahr 2014: Ich sass in der S-Bahn von Stadelhofen nach Stäfa und las, als der Zug abrupt abbremste und mitten auf der Strecke unter einigem Holpern zum Stehen kam. Nach einigen Minuten bestätigte die Durchsage, was manch eine/r schon dachte: "Personenunfall".

Im Schnitt ereignen sich 115 Suizide auf dem Schweizer Schienennetz (Quelle: SBB, Erfassungszeitraum: 2003-2017). Eine Tragödie für Angehörige und Freunde, aber auch für Zug- und Lokführer:innen sowie Passagiere.

Nach der Durchsage geschah in meinem Zugwaggon etwas, worauf ich nicht vorbereitet war: Einige Passagiere fingen an, lauthals zu schimpfen und zu wettern. Sie ärgerten sich über die anstehenden Verspätungen.

Aus Sicherheitsgründen und Gründen der Pietät dürfen Passagiere den Zug nicht verlassen, bevor der oder die Verstorbene geborgen ist und die Unfallstelle gesichert, mit Sichtschutz versehen und von den Behörden freigegeben wird. Das dauert.
In dieser Zeit muss auch der Lokführer im Zug verharren und sich noch an Ort und Stelle von der Polizei vernehmen lassen.

Leider konnte ich den wütenden Menschen in meinem Zugwagen nichts entgegnen. So geht es einem oft in einem Moment der Überforderung - man kann nichts sagen und ärgert sich nachher darüber. Ich ärgerte mich, dass ich nicht den Mut hatte, meine Mitpassagiere darauf hinzuweisen, dass zwei Stunden Verspätung nichts sind im Vergleich zu der Tragödie, die sich hier gerade abgespielt hat.

Stunden später, zu Hause angekommen, und bei genauerem Nachdenken, ist mir klar geworden, dass Menschen mit einer sie überfordernden Situation unterschiedlich umgehen. Aus der Überforderung resultiert nicht nur so etwas wie meine Sprachlosigkeit, sondern auch Verzweiflung, Angst oder eben Wut.
"Wenn schon Suizid, dann bitte so, dass nicht noch andere dabei in Mitleidenschaft gezogen werden." Solche Sätze habe ich schon oft gehört und ich kann sie verstehen.

Doch ich weiss auch, dass solche Überlegungen oftmals gar keinen Platz mehr haben: Wenn das Leben, oft durch Depressionen, so unerträglich geworden ist und der Tod die einzige Lösung zu sein scheint. Die meisten wollen nicht sterben. Sie wollen leben - aber nicht so. Gerade das sollte uns eher traurig als wütend stimmen.

Ein Suizid betrifft immer auch andere Menschen – solche, die mit der Person verwandt waren, Familien und Freunde. Und eben auch Menschen, die zufällig dazukamen oder an jenem Tag den Zug fahren. Für viele stellt ein solches Ereignis eine grosse Belastung dar, die lange nachwirkt. Ein Lokführer erzählte mir, dass man sieht, was passieren wird, aber keine Chance hat, es zu verhindern. Was sie sehen, hören und erfahren geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Einzelne können ihren Beruf nicht mehr ausüben.
Immerhin ist in allen Belangen das allgemeine Bewusstsein und die Sensibilität für das Thema gestiegen, sodass auch betreffende Lokführer:innen heute gut betreut, begleitet und präventiv geschult und geschützt werden.

Lange Zeit wurde Menschen, die durch Suizid verstorben sind, eine kirchliche Bestattung verweigert.
Oft wurden oder werden die Hinterbliebenen gemieden; weil ein Suizid nach wie vor etwas ist, was Menschen verstört. Viele wissen nicht, wie sie den Hinterbliebenen begegnen sollen.

Wie können wir, als Individuen und als Gemeinschaft reagieren?
Von Jesus wird erzählt, dass es ihm leidtat, leidende Menschen zu sehen. "Es jammerte ihn", heisst es in älteren Übersetzungen passend. Dieses "Jammern" geht noch viel weiter, eigentlich heisst das wörtlich: Es ging ihm an die Eingeweide. Für Hebräisch sprechende Menschen waren vor allem die Nieren der Sitz der Empfindungen (während das Herz der Sitz des Verstandes war). Nicht zufällig sagen wir heute noch: Es geht mir an die Nieren.
Jesus ging es an die Nieren, wenn Menschen litten. Es hat ihn im Innersten bewegt. Es ist diese innerliche Bewegtheit von etwas, das uns auf andere zugehen lässt. Wenn wir etwa ein Kind sehen, das ganz allein irgendwo steht und weint. Das geht uns nahe, wir kümmern uns darum. Jesus hatte offene Augen für die Menschen, ihre Situation und ihr Leid. Unabhängig davon, ob er diese Menschen kannte, oder nicht.

In dieser Hinsicht kann Jesus uns ein Vorbild sein, an einer Welt zu bauen, wo Menschen nicht alleine gelassen werden. Wo man auf andere zugeht und sie sich anspricht, wenn man das Gefühl hat, es gehe jemandem nicht gut. Wo man andere anspricht und fragt: Wie geht es Dir wirklich?

Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo die Liebe Gottes regiert und wir Menschen einander ohne Furcht ansprechen und begleiten können. Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo wir ein Auge auf unsere Mitmenschen haben und in der den Menschen das Schicksal der anderen nicht egal ist. Wo wir mit den Augen Jesu durch die Welt gehen, der das Leid um sich herum gesehen hat. Ich möchte am Reich Gottes bauen, wo die Menschen nicht nur sich selbst und ihre Liebsten sehen, sondern eine offene Tür und ein offenes Herz für viele haben.
Wo wir für- und miteinander beten, einander unterstützen und einen Blick für das haben, was im Moment grad Not tut. Wo jede/r uns zum Nächsten werden kann.



Hilfsangebote
» Seelsorge in der Kirchgemeinde Stäfa-Hombrechtikon
» E-Mail Seelsorge (anonym): seelsorge.net
» Beratungsangebot für Jugendliche bei Pro Juventute
» Tel. 143 (dargebotene Hand)

Suizidprävention
» Suizidprävention des Kantons Zürich

Für Trauernde

» Verein Refugium: Für Hinterbliebene nach einem Suizid
» Nebelmeer: Perspektiven nach dem Tod eines Elternteils
» Verein Regenbogen: Selbsthilfegruppen für vom Suizid ihres Kindes betroffene Eltern

Weiterführendes
» SRF3 INPUT (vom Februar 2019) zum Thema Suizid

» Buchtipp: Totsächlich. Trauern und begleiten nach einem Suizid. Von Sabrina Müller
» Interview mit Sabrina Müller: Suizid darf kein Tabuthema bleiben

Hier ist Platz für Kommentare

17.07.2022 09.18 Andy Clausen
Hätte Mühe.
Dabei zu sein.
In so einem Zug.
Mitschuldig fühlen.....

mEIN E-book:
Viele Elfchen mit Stil
27.07.2020 10.16 Monika Götte
Lieber Markus
Auch ich kann solche Gedanken nachvollziehen, sind mir doch schon so viele Menschen begegnet, die die Welt so empfinden und unter den täglichen Qualen leiden.
Dass man diese letzter aller Optionen, trotz oder vielleicht gerade aus der eigentlichen Liebe zum Leben ins Auge fasst, finde ich verständlich.
Lieber Markus, ich hoffe, Sie finden weiter Kraft für das Leben. Manchmal kann einem da vielleicht auch eine andere Perspektive helfen. Da Sie das Leben lieben, wäre das vielleicht einen Versuch wert. Oben aufgelistet sind verschiedene Hilfsangebote, die möglicherweise dazu beitragen können, einen Weg in dieser Welt zu finden. Ihr Leben ist wertvoll!
Seien Sie behütet!
27.07.2020 00.54 Markus
Ein weiterer Tag voll Schmerzen ist vorbei. Es ist eine tägliche Quälerei den letzten Rest an Selbstachtung nicht zu verlieren. Die Schmerzen können einfach beseitigt werden, wenn ich meine eigene Persönlichkeit einfach vergesse und mich der Norm unserer Gesellschaft unterordne.

Es ist oben ganz richtig geschrieben. Es ist nicht so, das man den Wunsch hat das Leben aufzugeben. Das Leben ist etwas tolles. Aber wenn die täglichen Schmerzen überhand nehmen, dann ist der finale Ausweg plötzlich eine Option welche man nicht mehr ausschließen kann und will.

Diese letzte finale Option zu wählen hat auch nichts mit depression zu tun. Ich liebe das Leben und diesen Planeten. Ich liebe meine Arbeit. Ich mag es im Team zu arbeiten. Ich hab Energie und habe keine Mühe um 6 Uhr aufzustehen. Aber das Leben in dieser Gesellschaft ist eine tägliche Tortur. Und ich weiß nicht, wir lange ich noch die Kraft habe diese täglichen Schmerzen und Qualen auszuhalten.
25.07.2020 00.29 Markus
Ich kann jeden verstehen der diesen Weg wählt. Diese Welt ist unglaublich brutal. Unsere Gesellschaft ist total verroht und abgestuft. Nur die wirklich starken überleben. Menschen die sensibel sind und nicht gelernt haben sich zu wehren, gehen in dieser Welt unter. Tagtäglich erlebe ich Schmerz, Demütigung und Erniedrigung weil ich nicht verstanden werde und ich nie gelernt habe mich zu wehren. Diese Welt ist unglaublich brutal. Sich gegenseitig fertig machen, andere runter machen, beschimpfen, seinen eigenen Willen ohne Rücksicht auf Mitmenschen durchsetzen. Das sind die Eigenschaften die man heute braucht um zu überleben. Wenn man diese brutalen Eigenschaften nicht besetzt, geht man in dieser Welt unter. Ich habe keine Lust mehr diese täglichen Schmerzen zu ertragen und schäme mich noch nicht den Mut gefunden zu haben mich aus dieser Gesellschaft selbst zu entfernen. Leider kann man nicht einfach eine Waffe kaufen. Da könnte man dies alleine im Wald erledigen ohne Mitmenschen zu schädigen. Ich habe daher tiefen Verständnis für jeden der den Weg unter den Zug sucht.
25.11.2019 10.25 Monika Götte
Nachtrag: Lieber Andy
Falls Sie mit "lasst uns sterben" auch sich selbst meinen: ich kenne Ihr Leben nicht und es steht mir auch nicht zu, darüber etwas zu sagen. Doch: Falls Sie das Leben noch nicht aufgeben wollen, suchen Sie sich Hilfe. Oben sind verschiedene Kontaktadressen aufgeführt.
25.11.2019 10.09 Monika Götte
Lieber Unfreiwilliger Zeuge
das tut mir sehr Leid, dass Sie das erlebt haben! Suchen Sie nach Möglichkeiten mit jemandem darüber zu reden, das mag jemand aus der Familie sein oder sonst jemand, dem Sie vertrauen; allenfalls kann auch ein Psychologe oder eine Psychologin helfen oder, falls Sie zu einer Kirchgemeinde gehören, gibt es auch da Leute, die Zuhören. Auf jeden Fall scheint es mir wichtig, diese Erlebnisse nicht unkommentiert zu lassen, sondern zu sortieren. Ich wünsche Ihnen hierbei viel Kraft!

Es gibt verschiedene sog. "Hotspots", der Bahnhof Stettbach scheint einer davon zu sein. Konkret unternehmen kann nur die SBB etwas, nämlich indem sie die Gleise sichert. Schreiben Sie einen Brief und bitten Sie darum. Wenn genügend Leute sich dafür einsetzen, bewegt sich hoffentlich etwas.

Lieber Andy
wenn Menschen wirklich sterben wollen, freien Willens - dann kann niemand sie aufhalten. Ich bin aber nicht sicher, dass die Menschen, von denen wir hier reden, wirklich sterben wollen. Sie "wollen" sterben, weil das Leben zu schmerzhaft ist. Zumindest in den Fällen, die ich kenne (es mag durchaus andere geben). Wäre das Leben für sie erträglicher, würden sie leben wollen. Und am letzteren möchte ich arbeiten.
24.11.2019 20.16 Unfreiwilliger Zeuge.
Leider ist es wieder passiert in Stettbach. Am Samstag 23.11.19, 16.15 Uhr. Für Angehörige und Zeugen ist das einfach nur schrecklich. Auch für die Personen, welche danach noch damit zu tun haben. Ob man an Gott glaubt oder nicht, es ist an der Zeit sich Gedanken zu machen, wie solche Situationen an diesem belebten Bahnhof verhindert werden können. Und natürlich ist es wünschenswert, wenn Gefährdeten geholfen werden könnte.
Das schweigen der Medien über diese Fälle hat auch eine eigenartige Seite: Als Zeuge hat man grässliches erlebt, die Welt dreht sich aber weiter, niemand hat Notiz davon genommen. Man ist dann plötzlich nicht mehr sicher, hat das alles statt gefunden? Ein Alptraum...
23.11.2019 21.46 Andy
Ich schäme mich für euch, ihr Heuchler!!!!
Jeder soll über sein Leben bestimmen können!!!!
Es wäre besser ihr höhrt auf die Armen Länder wegen ein paar rohstoffe für unseren Luxus auszubeuten!!!!
Kinder umbringen!!!
Kriege führen!!!!
Kinder-Vergewaltiger im Namen eines Glaubens!!!!!!!
23.11.2019 21.39 Andy
Lasst endlich die Menschen sterben di es wollen!!!!!
Dafür soll der Staat keine Waffen mehr verkaufen!!!
Lasst uns sterben die wollen.
29.10.2019 07.59 Heinz
Das ist eine gute idee,eine Beurteilung der Lage in Stettbach den zuständigen Behörden vorzuzeigen,und dadurch auch tiefes Mitgefühl zu zeigen das einem ernst der Lage ist,wir sind ja alles Mitmenschen,die die sicherste Lösung für unser Miteinander finden möchten.Ich glaube das dieser Brief zu diesem Thema sich bei der zuständigen Stelle sicher an den Platz legt.Auch gebe ich alle genuugtun Gottes mit.
28.10.2019 11.32 Monika Götte
Danke für Eure Beiträge! Es ist wichtig, dass man darüber spricht. Es braucht Menschen, die sich betroffen zeigen und die dieser Betroffenheit auch Ausdruck verleihen und sich nicht anstecken lassen vom Schweigen, Schimpfen oder der Sensationslust.

Es ist übrigens in mehreren Studien erwiesen, dass Zäune und jegliche Erschwerung des Zugangs zu den Gleisen helfen würden. Es gibt statistisch dann keine Verschiebung von Suiziden zu anderen "Methoden". Es ist auch die Gelegenheit, die sich bietet. Metrostationen in grösseren Städten wie London haben beispielsweise konsequent Schranken errichtet.
Wir sind in Stäfa seit bald zwei Jahren an der möglichen Errichtung eines Zaunes dran, in Gesprächen mit der Bahn und der Gemeinde. Vielleicht eine Idee für alle, die mit dem Bahnhof Stettbach in Verbindung stehen? Einfach mal einen Brief an die Gemeinde bzw. die Bahn schreiben. Eine Vorlage hätte ich.

Seid gesegnet!
27.10.2019 08.53 Bekannte
Ich bin auf diesen Beitrag gestossen, weil ich nach dem Personenunfall von gedtern im Stettbach suchte.
Ich bin unsagbar traurig darüber. Ich kannte die Person und ich kann nicht aufhören an die Eltern zu denken. Ich bin selber Mutter und kann diesen Schmerz erahnen den sie fühlen.
Es tut mir so leid, dass dies geschehen ist.